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Lebens-, Konflikt- und Bezie­hungs­be­ra­tung • Alexan­der-Tech­nik • Stages-Ent­wick­lungs­pro­file und -beglei­tung

Stress auflösen, Gelassenheit lernen

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Es gibt unzählige Situationen, die in uns das auslösen, was wir als Stress bezeichnen: der Regionalzug zum Hauptbahnhof verspätet sich und es wird immer knapper werden, den ICE noch zu erreichen. Die Gäste sitzen schon erwartungsvoll am Tisch, da brennt das Käsefondue an, der Geruch verbreitet sich durch die ganze Wohnung, und das Fondue scheint ungenießbar geworden zu sein. Am Abend vor dem Abgabetermin der Hausarbeit lassen sich trotz vieler Versuche nur sieben von den insgesamt 15 Seiten ausdrucken, und eine Lösung ist nicht in Sicht. Die Präsentation ist für zehn Uhr angesagt, und eine Stunde vorher verlangt der Chef zahlreiche Änderungen an den Vortragsfolien. In diesen Beispielen sind es die unerwarteten Ereignisse, die Stress auslösen können. Unter Spannung setzen können uns allerdings auch Ereignisse, von denen wir ganz genau wissen, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt eintreten werden, wie beispielsweise ein Vorstellungsgespräch, ein Abgabetermin, eine Familienfeier, das abendliche Zubettbringen der Kinder. Und manchmal versetzen uns Gedanken an mögliche Ereignisse in der Zukunft unter große Spannung, obwohl deren Eintreten nicht sehr wahrscheinlich ist. Wir können auf solche Herausforderungen jedoch ganz unterschiedlich reagieren. Entweder, indem wir uns völlig von ihnen gefangen nehmen lassen oder indem wir uns ein Stück innere Freiheit und Präsenz erhalten.

Was Stress mit uns tut

Wir bezeichnen mit Stress sowohl Situationen, die uns unter Spannung setzen, als auch das Gefühl körperlich-geistiger Anspannung selbst. Eine solche Anspannung geht normalerweise mit vielfältigen körperlichen und geistigen Veränderungen einher: das Herz schlägt schneller, der Atem ist angestrengt und deutlicher hörbar, im Magen kann sich ein flaues Gefühl einstellen, die Hände oder andere Körpergebiete beginnen zu schwitzen, eine Flut von Gedanken durchströmt das Bewusstsein, die Konzentration nimmt ab, offensichtliche Dinge werden übersehen, die Vergesslichkeit nimmt zu. Auch wenn verschiedene Menschen verschieden reagieren, ist physiologisch üblicherweise eine erhöhte Ausschüttung von Adrenalin und Cortisol im Spiel. Es gibt Situationen erhöhter Gefahr und körperlicher Anforderungen, für die ein Teil dieser Reaktionen sehr sinnvoll ist, dass z.B. mehr Blut in Arme und Beine fließt. Die angesprochenen Stressreaktionen des Körpers sind jedoch für viele Menschen zu alltäglichen Begleitern geworden.

Natürlich gibt es auch Menschen, die in herausfordernden Situationen zu Hochform auflaufen und sich dabei wohl fühlen. Das kann so lange gut gehen, wie diese Menschen fähig sind, sich wieder vollständig zu erholen und dabei ihren geistig-körperlichen Zustand auf eine langsamere Gangart umzustellen. Weitaus häufiger wird dauerhafter Stress als Belastung erlebt, die unsere körperliche und geistige Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit einschränkt und unterminiert. Unter Stress sind viele Menschen gereizt, ungeduldig, reden entweder zu viel oder zu wenig, machen viele Fehler, sind weniger kreativ und lassen sich zu Äußerungen oder Handlungen hinreißen, die sie später bereuen.

Oftmals führt sich ständig wiederholender oder dauerhafter Stress zu chronischen Veränderungen und Störungen in Herz und Kreislauf, Atmung, Verdauung und im Immunsystem. Dabei können oft wiederkehrende kleinere Stressreaktionen eine größere Belastung darstellen als eine einmalige kräftige Erregung. Man nimmt heute an, dass sehr viele Krankheiten mit chronisch gewordenen Stressreaktionen des Körpers zusammen hängen. Dazu zählen nicht nur die klassischen Stresskrankheiten wie Bluthochdruck, Erschöpfungszustände, Magengeschwüre, Kopfschmerzen und Migräne, erhöhte Infektanfälligkeit oder Schlafstörungen, sondern auch viele andere Beschwerden. Insbesondere hat Stress einen großen Einfluss auf Verlauf und Heilung praktisch aller Krankheiten.

Die meisten Menschen, die mit Stresssymptomen zu tun haben, wissen, dass es wichtig wäre, etwas zu tun, und haben hierzu auch erste Ideen, doch die praktische Umsetzung erscheint ziemlich schwierig zu sein. "Ich habe keine Zeit für Bewegung oder Entspannung" ist eine Aussage, die wir in dieser oder ähnlicher Form oft hören können. Oft erst dann, wenn die Krankheitssymptome überhand nehmen, entsteht auch die Bereitschaft zum Handeln. Eine rein medizinische Behandlung dieser Krankheiten ist häufig unzureichend, da sie so offensichtlich in unserem Reagieren und unseren Gewohnheiten verwurzelt sind. Nachhaltig aus dem Stress heraus führen können nur bewusste Schritte zu einem anderen Umgang mit uns selbst.

Körperlich-geistige Kohärenz

In den vergangenen Jahren haben wir viel darüber lernen können, wie sich Wohlbefinden, körperliche Beanspruchbarkeit und geistige Leistungsfähigkeit verstehen lassen (ein Beispiel sind die Forschungsberichte des HeartMath-Institutes). Diese Eigenschaften lassen sich beschreiben als ein gutes Zusammenspiel der verschiedenen körperlichen, emotionalen und geistigen Funktionskreisläufe im Menschen. Die rhythmischen Vorgänge in Atmung und Kreislauf, in Immunsystem und Verdauung, in der Hirn-Rückenmarksflüssigkeit und in den elektrischen Strömen des Gehirns befinden sich in einem flexiblen und harmonischen Einklang. Der Muskeltonus ist der Situation angemessen, die Körperhaltung gelöst und aufrecht. Der Geist ist wach, flexibel und kreativ. Die emotionale Grundstimmung ist von Vertrauen, Ausgeglichenheit und Zuversicht geprägt. Nächtlicher Schlaf führt zu Erholung des gesamten Menschen und zu Erneuerung der Lebenskräfte. Ein solches Zusammenspiel von Körper und Geist kann auch als innere Kohärenz bezeichnet werden. Der Begriff Kohärenz meint die gute und harmonische Integration aller Teile eines Ganzen.

Ein einzigartiger Anzeiger einer kohärenten geistigen und körperlichen Verfassung ist der Rhythmus des Herzschlages. Anders als wir vielleicht denken, folgen die Herzschläge keineswegs in gleichen Abständen aufeinander. Vielmehr kann ein ständiger Wechsel von Beschleunigung und Verlangsamung im Rhythmus der Herzschläge beobachtet werden. Wenn dieser Verlauf von Beschleunigung und Verlangsamung in einem Diagramm sichtbar gemacht wird, so kann dieses Bild entweder geprägt sein durch abrupte Wechsel unterschiedlich langer Phasen von Beschleunigung und Verlangsamung, insgesamt also ein gezackter und eher chaotischer Verlauf, oder der Herzrhythmus kann sich darstellen als harmonischer Wechsel von Auf und Ab, von Beschleunigung und Verlangsamung. (In der Fachsprache bezeichnet man den Herzrhythmus als Herzfrequenz-Variabilität.) Das erste Bild des Herzrhythmus (siehe Abb. 1) stellt den Zustand im Stress dar. Die verschiedenen Untersysteme im Menschen befinden sich in Widerstreit und Disharmonie. Ein solcher Zustand wird daher auch als Inkohärenz bezeichnet. Das zweite Bild (siehe Abb. 2) dagegen gehört zu einem Zustand körperlicher und geistiger Ausgeglichenheit und Integration. Ein solcher Herzrhythmus steht in direktem Zusammenhang mit aufbauenden Gefühlen wie Freude oder Dankbarkeit.

Körperliche und geistige Ausgeglichenheit und Kohärenz sind ein natürlicher Zustand, in den wir z. B. kommen, wenn wir uns freuen, weil uns etwas gelungen ist oder weil wir gelobt wurden. In solchen Fällen wird die innere Ausgeglichenheit von außen ausgelöst. Meistens ist sie daher auch nicht von langer Dauer, sondern verschwindet schnell, wenn all das wieder in den Vordergrund rückt, was uns eher belastet, ärgert oder ängstigt. Können wir nachhaltig geistig-körperliche Ausgeglichenheit und Kohärenz in uns herbeiführen, auch ohne aufbauende Auslöser von außen? Die nachfolgenden Abschnitte versuchen, darauf eine Antwort zu geben.

Konstruktiv mit Stress umgehen

Viele weitverbreitete Gewohnheiten, um mit Stress umzugehen, helfen nicht, zu einem ausgeglichenen Zustand zurückzukehren. Im Gegenteil verstärken sie die nervliche und körperliche Belastung. Zu solchen sehr beliebten, wenn auch kontraproduktiv wirkenden "Stressmitteln" gehören z.B. übermäßiger oder zwanghafter Konsum von Kaffee, Süßigkeiten, Alkohol, Zigaretten, Beruhigungsmedikamente oder auch Drogen wie beispielsweise Kokain. Unter Stress stürzen sich viele Menschen in Arbeit, versinken in exzessivem Fernsehen oder Computerspiel oder lassen sich zu Essanfällen hinrei&azlig;en. Diese Stimulantien führen zu einer Dauererregung des Nervensystems und verstärken viele der ungünstigen Symptome, die auch durch die Stressreaktionen ausgelöst werden.

Wenn wir tatsächlich lernen möchten, auf herausfordernde Situationen nicht mit unnötigem Stress zu reagieren, dann empfiehlt es sich, Lösungen suchen, die in eine andere Richtung führen: zu der Fähigkeit, auch in herausfordernden Situationen ein gewisses Niveau an Kohärenz beibehalten zu können, oder, wenn uns die Stressreaktion bereits eingeholt hat, uns wieder daraus herauslösen zu können. Eine solche Fähigkeit ist ein wesentliches Element emotionaler Kompetenz. Emotionale Kompetenz umfasst unter anderem die Fähigkeit, mit unseren Gefühlen nicht nur an der Oberfläche in Kontakt zu bleiben und zu wissen, wie wir auch mit belastenden Gefühlen konstruktiv umgehen können.

Hier möchte ich vier Elemente vorstellen, die uns ermöglichen, bewusst mit Stress umzugehen und dabei Gelassenheit auch in schwierigen Situationen zu erlernen. Diese vier Elemente sind:

  1. Innehalten und Ausrichten.
  2. Klärung von stressauslösenden Situationen und unserer Reaktion darauf.
  3. Die Qualitäten des Herzens.
  4. Sammlung in Stille.

Diese vier Elemente sollen nun eingehender betrachtet werden.

Element 1: Innehalten und Ausrichten

Unser Wachbewusstsein kann mindestens zwei grundlegende Qualitäten annehmen. Wir können entweder vollständig in unseren Gedanken und unserem Tun aufgehen und ein bisschen wie Automaten von einem zum nächsten gehen. Wir können aber auch präsent sein und so eine Art übergeordnetes Bewusstsein von dem haben, was wir gerade tun. Während die erste Art des Wachbewusstseins eher einem Schlafwandeln gleicht, hat eigentlich erst die zweite Art des Bewusstseins das Prädikat Wachheit verdient. Innehalten ist das, was uns zurück in die Präsenz, in die Bewusstheit unserer Gegenwärtigkeit bringt. Innehalten ist eine Art inneres Stoppen, das uns wieder in Verbindung bringt mit dem gegenwärtigen Augenblick und all dem, was gerade ist.

Vor, während oder nach stressigen Situationen ermöglicht uns Innehalten, nicht einfach gewohnheitsmäßig zu reagieren, sondern uns selbst und unsere Möglichkeiten zu sehen. Innehalten ermöglicht uns, unsere Reaktionen zu wählen.

Vom Nervensystem her betrachtet, gibt es zwei grundlegende Funktionsweisen: die Hemmung auf der einen Seite und die Erregung auf der anderen. Die Hemmung unterbricht einen laufenden Prozess. Beispielsweise wird die Aufmerksamkeit vom Lesen auf ein Geräusch umgelenkt. In diesem Sinne ist Hemmung ein natürlicher Vorgang, der ständig und unbewusst in uns abläuft. Innehalten benutzt diese Fähigkeit zur Hemmung als bewussten Akt. In diesem Sinne muss Innehalten geübt werden. Aus der Praxis der Alexander-Technik wissen wir, dass das nicht ganz leicht ist. Beispielsweise reagieren viele Menschen auf eine Berührung der Hand unwillkürlich so, dass sie die Hand wegziehen. Auf eine Berührung oder einen anderen Impuls nicht sofort zu reagieren, erfordert einen höheren Grad an Bewusstheit. Dieser höhere Grad an Bewusstheit, an Präsenz, ist der Schlüssel für den bewussten und konstruktiven Umgang mit Stress.

Selbst in einem ganz gewöhnlichen und nicht besonders herausfordernden Alltag macht es einen großen Unterschied, ob ich mich von einem zum nächsten einfach so treiben lasse, oder ob ich das, was ich als nächstes tue, bewusst wähle. Bewusst wählen ist immer nur möglich in dem Raum, der durch Innehalten geschaffen wird. Dies gilt noch viel mehr in Situationen intensiver Anforderung, wie beispielsweise beim Weihnachtseinkauf in der letzten Minute oder wenn Sie Ihr Kind zum ungeliebten Haareschneiden begleiten. Vor solchen Situationen, aber auch mittendrin können wir durch systematisches Innehalten und die dadurch entstehende Umsicht bereits viel von unnötiger Spannung abbauen. Innehalten muss dabei von außen überhaupt nicht sichtbar sein, jedenfalls nicht in der Form, dass ich sichtbar stehen bleibe oder eine Handlung sichtbar unterbreche. Aber natürlich ist auch dies in vielen Situationen sehr hilfreich. Oftmals wird Innehalten einfach nur heißen, dass ich in meinem Bewusstsein zu Gegenwärtigkeit und Umsicht zurückkehre.

Innehalten ist auch die Voraussetzung für das, was wir "innerliches Ausrichten" nennen können. Damit ist sowohl ein gedankliches Ausrichten auf die Aufrichtungsenergie im menschlichen Körper gemeint, als auch auf die Einnahme von emotionalen Haltungen oder die bewusste Ausrichtung von Denken, Sprechen und Sehsystem. Innere Ausrichtung verhilft uns zu Koordination von Körper, Gefühl und Geist. Besonders nützliche Formen des sich Ausrichtens in Stresssituationen werden in den nachfolgenden Elementen näher dargestellt.

Element 2: Klärung von Stressauslöser und Reaktion

Um für mich zu klären, was in mir manchmal oder auch immer wieder Unruhe, Druck und Nervosität, aber auch Angst oder Ärger auslöst, helfen die folgenden drei Fragen:

  1. Welches ist das meiner Stressreaktion zugrunde liegende Gefühl?
  2. Wodurch wurde es ausgelöst?
  3. Was ist mir in der Situation wirklich wichtig?

Dies sind Fragen, die ich mir in einem konstruktiven Selbstgespräch stellen kann. Häufig ist es jedoch sehr hilfreich, ein klärendes Gespräch mit einem anderen zu führen, der mit Zuwendung und Akzeptanz zuhören kann und nicht darauf aus ist, sogleich seine eigenen Geschichten einzubringen und Ratschläge zu erteilen.

Betrachten wir uns die erste Frage nach dem zugrunde liegenden Gefühl etwas näher. Spannung und Stress sind ziemlich allgemeine Begriffe um unsere emotionalen Reaktionen auf bestimmte Ereignisse zu kennzeichnen. Um mich und meine Reaktion genauer zu verstehen kann ich mich fragen, welches Gefühl meinem Stresserleben zugrunde liegt. Ist es eher Ärger oder Wut, ist es psychischer Schmerz oder eine seelische Belastung, oder ist es eher Ängstlichkeit? Häufig fällt es uns gar nicht leicht, solche Gefühle wahrzunehmen und zu benennen. Das liegt zum einen schlicht daran, dass Angst oder Wut unangenehme Gefühle sind, die wir lieber nicht hätten. Verstärkt wird diese Schwierigkeit durch die soziale Missbilligung dieser Gefühle. Es ist jedoch wichtig, die zugrundeliegenden Gefühle benennen zu können, da es hilft, bewusst mit ihnen umzugehen. Das Benennen bringt mich in Kontakt mit meinem unmittelbaren Erleben. Dass ich Gefühle mir selbst gegenüber benennen kann, heißt nicht unbedingt, dass ich sie jemand anderem mitteile. Es heißt auch nicht, dass ich mich in sie hinein steigere oder sie umgekehrt zu verdrängen versuche.

Ein Gefühl benennen zu können, heißt einfach, dass ich es mir bewusst mache, dass ich es sehen kann: "Aha, ich ärgere mich gerade" oder "Ja, ich habe ziemlich Angst." In diesem nicht bewertenden Sehen und Benennen liegt auch ein Moment des Annehmens, des bewussten Seins in diesem gegenwärtigen Augenblick. Stress, Angst oder Wut werden dadurch nicht einfach verschwinden, und trotzdem bin ich in einem solchen Moment mit dem in mir in Kontakt gekommen, was eine Situation, ein Gefühl, ein Problem wach sehen kann, ohne mit ihm völlig identisch zu sein.

Mit der zweiten Frage in einem solchen Klärungsprozess möchte ich wissen, worauf sich mein Stress und meine Gefühle denn beziehen, durch was sie ausgelöst wurden. Ist es der Umstand, dass die Straße, auf der ich zu meiner Arbeit fahre, unangekündigt durch Bauarbeiten blockiert ist, oder sind es meine Befürchtungen, von meinen Kollegen angeraunzt zu werden, wenn ich zu spät komme? Ist es der Umstand, dass gerade in dem Moment, als ich mich mit meiner Familie zum Abendessen hinsetze, das Telefon klingelt, oder ist es die Unentschiedenheit und das Zögern, ob ich das klingelnde Telefon jetzt ignorieren kann? Es gelingt oft nicht auf Anhieb, die einfache Beschreibung der Situation, die auch ein Außenstehender geben könnte, von meiner Interpretation derselben zu unterscheiden. Auch die Beantwortung dieser Frage erfordert, dass ich mich innerlich aus dem unmittelbaren Geschehen etwas herausnehme. Die Interpretation von der Beobachtung und sinnlichen Wahrnehmung zu unterscheiden, ist jedoch wesentlich, um mich selber zu verstehen.

Wir sind so sehr daran gewöhnt, unsere Situationswahrnehmung mit Interpretationen und Bewertungen zu befrachten, dass wir dies normalerweise gar nicht bemerken. Ein Straßenstau wird dann zu einer persönlichen Attacke, ein Telefonanruf zu einer unverschämten Störung, ein unbedachtes Wort zu einer Beleidigung, Gerüche aus der Nachbarwohnung zu abscheulichem Gestank. Die Frage nach dem Auslöser von Stressgefühlen kann uns helfen, den großen Beitrag klarer zu erkennen, den Befürchtungen, Bewertungen und Interpretationen zu unserem Erleben haben.

Die letzte Frage, was ist mir denn nun wirklich wichtig in einer bestimmten Situation, bezeichne ich hier als den dritten Schritt einer Klärung. Das kann ganz unterschiedliches sein: z.B. es ist mir wichtig, ein Projekt rechtzeitig abzuliefern, um eine Vereinbarung einzuhalten. Oder, ich möchte, dass sich meine geladenen Gäste wohl fühlen. Oder es ist mir wichtig, bald nach Hause zu kommen um mich ausruhen zu können. Oder ich möchte, dass das abendliche Zubettbringen der Kinder ein friedliches und vergnügliches Ereignis wird. Wünsche und Ziele werden sich natürlich nicht immer erfüllen. Mit Fehlern und Misserfolgen umzugehen gehört daher genauso zum konstruktiven Umgang mit Stress, wie dass ich mir über die tieferen Beweggründe meines Tuns klar werde. Dies hält mich davon ab, mich in Oberflächlichkeiten und ungünstigen Interpretationen zu verlieren.

Sich solche Fragen zu stellen ist kein rein intellektuell-analytisches Unterfangen. Vielmehr beinhaltet es ein zu sich selbst Hinsehen, eine Art innerer Pause und zu unterscheiden zwischen dem, was eine äußerlich gegebene Situation ist, und meiner Interpretation derselben.

Johannes geht zur Post - ein alltägliches Beispiel

Johannes hatte sich mit seinem Freund Marcus verabredet, um gemeinsam ins Fitness-Studio zu gehen. Auf dem Weg dorthin wollte er nur noch schnell zur Post gehen um ein Paket aufzugeben. Während Marcus im Auto wartet, bemerkt Johannes beim Betreten der Poststelle, dass die Schlange der wartenden Menschen ziemlich lang ist. Eine Angestellte am zweiten Schalter erklärt einer Kundin, dass ihr Computer im Moment nicht funktioniere und dass sie deshalb zum anderen Schalter wechseln müsse. Dort steht bereits ein Mann, der offensichtlich nur geringe Deutschkenntnisse hat, und dem die Angestellte dabei hilft, ein Überweisungsformular auszufüllen. Aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten nimmt dieser Vorgang einige Zeit in Anspruch und die Abfertigung der Kunden ist ins Stocken gekommen. In der Schlange vor Johannes hört man vereinzelt ein kaum unterdrücktes Stöhnen. Auch Johannes wird innerlich unruhig. Er hatte damit gerechnet, dass es nur wenige Minuten dauern würde, sein Paket aufzugeben, doch jetzt zieht sich dieses Unterfangen ganz beträchtlich in die Länge. Johannes beginnt, sich mehr und mehr zu ärgern, in Gedanken beschuldigt er abwechselnd den Mann am Schalter und die Post insgesamt.

In diesem Beispiel finden wir viele Elemente einer Stressituation. Die gedanklichen Beschuldigungen sind typisch für die mentale Verwirrung, die in einem solchen Moment entstehen kann.

Ohne ein Innehalten kann jetzt leicht eine emotionale Spirale beginnen, in der sich der Ärger in Wut verwandelt, eine unbedachte Äußerung gegen eine Postangestellte fällt, gefolgt von Scham und Selbstmitleid. Zurück im Auto kommt es zu einem scharfen Wortwechsel, und die Stimmung für das gemeinsame Unternehmen ist auf dem Tiefpunkt angelangt.

Einen anderen Verlauf nähme die Situation, wenn Johannes den in ihm aufsteigenden Ärger und die gedanklichen Beschuldigungen bemerkt und zum Anlass nimmt, um einen Moment innezuhalten. Er benennt für sich selber seine Unruhe und seinen Ärger, und allein das gibt ihm schon ein Stück Ruhe zurück.

Als nächstes könnte sich Johannes fragen, was in ihm eigentlich den Ärger ausgelöst hat. Ist es der Umstand, dass nur ein Schalter bedient wird? Oder dass es auch am zweiten Schalter nur langsam voran geht? Geht es darum, dass Johannes allgemein sehr ungern wartet? Ist er aufgebracht gegen Menschen, die nur geringe Deutschkenntnisse haben? Denkt er, dass die Post völlig ineffizient organisiert ist? Geht es darum, dass Marcus draußen wartet?

Angenommen, Johannes kommt zum Schluss, dass es ihn hauptsächlich beunruhigt, dass sein Freund draußen warten muss, hat er die Voraussetzung dafür geschaffen, um sich zu entscheiden, was ihm denn jetzt besonders wichtig ist: Sein Paket jetzt aufzugeben oder seinen Freund nicht länger warten zu lassen.

Wie wir in diesem alltäglichen Beispiel sehen, ist Innehalten der Schlüssel um sich nicht in einer ungünstigen emotionalen Spirale zu verfangen. Eine kleine innere Pause eröffnet die Möglichkeit, die Situation gedanklich zu klären und aus der Unruhe in eine gelassenere Stimmung zurückzukehren.

Element 3: Die Qualitäten des Herzens

Wenn ich mich wohl fühlen möchte, dann begebe ich mich am besten in die Gesellschaft von freundlichen, herzlichen und anerkennenden Menschen. Offensichtlich geht von solchen Qualitäten etwas aus, das auch in anderen Menschen zur inneren Ausgeglichenheit beiträgt. Im Zusammenhang mit dem Rhythmus des Herzens hatten wir bereits gesehen, dass es aufbauende emotionale Qualitäten und Einstellungen sind, die zu einem kohärenten geistigen und körperlichen Zustand führen. Die Qualitäten des Herzens sind der vielleicht wichtigste Gesundheitsfaktor, den wir kennen.

Es gibt eine Vielzahl von aufbauenden und integrierenden Emotionen und Haltungen. Dazu zählen Wohlwollen, Mitfreude, Anerkennung oder Dankbarkeit. Vielleicht denken wir, dass solche Emotionen nur das Ergebnis von äußeren Umständen sind, zum Beispiel, dass wir gelobt werden oder uns jemand Wärme und Akzeptanz entgegen bringt. Es ist jedoch ein entscheidender Schritt zu erkennen, dass wir unsere Stimmungen und Gefühlslagen wählen können. Es mag nicht leicht erscheinen, in einer Situation, in der ich mich gerade sehr über mich selbst ärgere, weil ich zum Beispiel etwas wichtiges vergessen habe oder den Vorsatz, früh ins Bett zu gehen, nicht ausgeführt habe, zu Annehmen und Wohlwollen mir selber gegenüber zurückzukehren. Annehmen ist hier nicht das gleiche wie "jetzt ist es sowieso egal, ich hab's halt vermasselt" oder "jetzt bleibt mir sowieso nichts anderes übrig". In solchen Sätzen hören wir, dass sich der Sprechende seinen Fehler noch nicht verziehen hat. Verzeihen, auch mir selber gegenüber, ist offenbar eine weitere Qualität des Herzens, die uns zu Kohärenz und Ausgeglichenheit zurückführen kann.

Wir können die Qualitäten des Herzens kultivieren, so dass sie uns genauso ständige Begleiter sind wie das Innehalten und die Präsenz. Offenheit, Mitgefühl oder Dankbarkeit drücken eine Art innere Ausrichtung aus, mit der wir Schwierigkeiten und der Unbill des Lebens sinnvoll begegnen können. Die bewusste Vertrautheit mit den Qualitäten des Herzens ist auch die beste Zutat zu einem konstruktiven Umgang mit Stress.

Wir können uns in den Qualitäten des Herzens genauso üben wie in körperlicher Beweglichkeit, Aufrichtung oder Ausdauer. Ein guter Beginn kann darin bestehen, unsere Aufmerksamkeit auf die erfreulichen Dinge des Lebens zu richten. Vielen Menschen fällt es sehr viel leichter, über all das zu berichten, was störend, lästig und belastend war, als über das, was einfach gut funktionierte, eine Liebenswürdigkeit ausdrückte und uns unterstützte. Eine solche einfache Änderung der Perspektive bringt uns auf einfache Weise in Kontakt mit den aufbauenden Qualitäten des Herzens und diese stehen uns dann auch sehr viel näher, wenn es einmal wirklich schwierig wird.

Element 4: Sammlung in Stille

Innehalten, sich an den Qualitäten des Herzens orientieren und häufig auch eine schnelle Klärung sind Werkzeuge, die wir mitten in Aktion anwenden können. Wir können sie um so besser unter großen Herausforderungen anwenden, je öfter und regelmäßiger wir die gleichen Werkzeuge in gesammelter Stille anwenden. Insbesondere Innehalten und Ausrichten, aber auch die Kultivierung von Herzensqualitäten können auch verstanden werden als meditative Praxis, die wir im stillen Sitzen oder auch im bewussten Stehen oder Gehen üben können. Es ist eine solche Praxis, durch die unser Körper und unser Geist einen bewusst aufgebauten Zustand von Kohärenz und Ausgeglichenheit kennen lernt, so dass es leichter ist, dazu zurückzukehren. Und es ist die gleiche Sammlung in Stille, durch die wir die Fähigkeit erlernen, unser Bewusstsein auszurichten, und unseren Körperempfindungen, dem Sehen, Hören, Riechen und Schmecken, aber auch den Gedanken und Gefühlen wach zuzusehen, ohne uns in sie einzumischen. Es ist diese Qualität von innerem Sehen, von Gegenwärtigkeit und Gewahrsein, die uns auch durch den stressigen Alltag begleiten kann und uns sehr viel schneller erlaubt, zu uns selbst zurückzufinden, wenn uns etwas aus dem Gleichgewicht geworfen hat.

Zehn Minuten Ärger sind auch nach sechs Stunden noch im Hormonhaushalt nachweisbar. Genauso wirken sich die günstigen körperlichen und geistigen Prozesse, in die wir in Stille und Sammlung hineinfinden können, für viele Stunden aus, unabhängig davon, ob es sich um Stunden des Tages oder während des Nachtschlafes handelt. Ich selber finde es immer wieder hilfreich, mich durch eine hör- oder sichtbare Rückmeldung meines Körpers in der geistigen Sammlung unterstützen zu lassen. Als besonders geeignet hat sich dabei der Herzrhythmus bewährt, dessen momentane Qualität als Reaktion auf den eigenen geistigen und emotionalen Zustand am Computerbildschirm oder in anderer Form angezeigt werden kann.

Schrittweise zu mehr Gelassenheit

Einen gelasseneren Umgang mit herausfordernden Situationen lernen wir nicht über Nacht. Entscheidend ist jedoch die Bestimmtheit und Geduld, mit der wir uns auf den Weg machen. Es ist eine der großartigsten Gaben des menschlichen Lebens, dass wir Präsenz, Bestimmtheit und Ausrichtung immer wieder erneuern können. Dabei hilft es besonders, sich nicht über die Fehlschläge und Momente von Geistesverlorenheit zu ärgern, sondern uns über das Erinnern und Aufwachen zu freuen.

Die hier dargestellten vier Elemente eines konstruktiven Umgangs mit Stress sind nicht zu verstehen als eine Art erstens-zweitens-drittens-Programm, sondern als Elemente, die sich gegenseitig unterstützen und ineinanderfließen. Kreativ angewandt können sie unsere Lebensgestaltung durch Freiheit, Präsenz und Kohärenz bereichern.


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